M wie Migration

Obwohl der Mensch schon immer ein tiefes Bedürfnis nach Heimat verspürte, war er immer auch ein Wanderer und Nomade – und offensichtlich wird er es auch bleiben. Sei es der Berufspendler als Tageszeitenmigrant. Sei es der Freizeitmigrant am Wochenende oder im Urlaub. Sei es der Einzelne, der nicht im Land der Vergangenheit sein Leben verbringen will, sondern ein anderes Land der Zukunft sucht. Oder seien es die grossen Ströme der Völkerwanderung. Einst verdrängten die wilden Barbaren die dekadenten Römer. Heute befürchten einige anscheinend, dass die mobilen Afrikaner und Asiaten die dekadenten Europäer verdrängen. Das bringt Veränderung – und somit Stress und einen erheblichen Verhandlungsbedarf – für diejenigen, die in der Heimat bleiben dürfen und sich von Fremden provoziert fühlen. Und für diejenigen, die aus irgendeinem Motiv die Heimat ihrer Eltern verlassen, um sich eine neue Heimat für ihre Zukunft zu suchen. Und für viele ist auch schon der Wechsel von einer ehemaligen Basler Bank nach Zürich ein gewaltiger Schritt.

L wie LOHAS

N wie Nanotechnologie

Hier geht’s zum Überblick

Hier geht’s zum Originalartikel im UBS Magazin

Wird die Zukunft dem Elektroauto gehören?

Pariser Automesse

An der Pariser Automesse gab es am 1. Oktober 2010 eine Weltpremiere der besonderen Art: Die Internationale Energie Agentur, Deutschland, China, Frankreich, Japan, Schweden, Spanien, Südafrika und die USA lancierten die „Electric Vehicles Initiative“[1]. Ziel dieser Initiative ist, den Markt für Elektro- und Hybridfahrzeuge schnellstmöglich zu entwickeln. „Elektro- und Hybridfahrzeuge sind wichtig für die Energiesicherung der Zukunft“, sagte IEA-Chef Nobuo Tanaka. „Um das Ziel, die CO2-Emissionen bis 2050 im Vergleich zu denen von 2005 zu halbieren, erreichen zu können, brauchen wir 2050 eine Milliarde solcher Fahrzeuge.“[2] So war in Paris eine ganze Halle den Alternativ-Antrieben und den Elektro-Autos gewidmet.[3] Die Vielfalt an Ökoauto-Alternativen dehnt sich dabei von Elektro- über Hybrid- bis zu Wasserstoff-Antrieben aus.

Franzosen und Japaner setzen auf Elektro-Autos. Dabei geht es um viel Image: Citroën und Peugeot werden viel Werbung mit ihren Electro Cars machen.[4] Toyota als grösster Hersteller der Welt startete in Paris die Europa-Offensive seiner Hybrid-Modelle. Toyota will 2011 Hunderttausende Hybrid-Autos in Europa verkaufen. [5] Demgegenüber sehen die deutschen Hersteller noch keinen Trend zum Strom.[6] Beispielsweise Mercedes-Benz setzt auf „Clean Diesel“. Dabei liegt der Fokus auf weiten Fahrstrecken: hier gelten möglichst belastungsarme Dieselfahrzeuge derzeit als die vernünftigste Option – falls man auf Individualverkehr setzt und die Bahn keine Alternative darstellt.

Wie gross wird der Markt werden?

Die deutsche Bundesregierung plant, dass eine Millionen Elektrofahrzeuge bis 2020 auf deutschen Straßen fahren sollen. [7] Doch die politischen Absichtskundgebungen und die Einschätzungen von Herstellern und Consultants decken sich nicht: „Das rein batteriebetriebene Elektroauto ist ein Nischenfahrzeug und wird es zumindest bis zum Jahr 2020 auch weiterhin bleiben“, meint Professor Willi Diez, Direktor des Instituts für Automobilwirtschaft in Nürtingen[8]. Gemäss der Beratungsgesellschaft Boston Consulting wird der Weltmarktanteil an Elektrofahrzeugen im Jahr 2020 nur bei drei Prozent liegen,[9] McKinsey erwartet bis zum Jahr 2020 weltweit immerhin einen Marktanteil von neun Prozent. Auf den deutschen Markt würden aber nur knapp 600.000 Fahrzeuge entfallen.

Fachleute täuschten sich vor hundert Jahren schon in ihren Meinungen

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutete sich der Durchbruch des motorisierten Individualverkehrs an. Der deutsche Kaiser Wilhelm II glaubte am Ende des 19. Jahrhunderts aber noch an die Zukunft des Pferdes und erachtete das Automobil nur als vorübergehende Modeerscheinung. Gottlieb Daimler, der grosse deutsche Autopionier, war 1901 noch überzeugt, dass der Nischenmarkt für Automobile eine Million Fahrzeuge nicht überschreiten werde – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren. Und Henry Ford wird nachgesagt, er sei überzeugt gewesen, dass sein Modell T nur in der Farbe schwarz verkäuflich sei.

Noch nicht vergleichbar – doch welches ist der richtige Benchmark für die Schweiz?

Noch ist die Elektromobilität noch nicht dort, wo wir sie haben wollen – und wo sie sein muss, falls sie weltweit wirklich eine vollwertige Alternative zum Auto werden will:

Die meisten Akkus haben noch eine geringe Reichweite. Selbst leistungsstarke Lithium-Ionen-Batterien bringen reine E-Autos höchstens etwa 150 bis 160 Kilometer weit. Doch da in der Schweiz die mittlere Tagesdistanz, die mit dem Auto zurückgelegt wird, etwa 25 km beträgt,[10] und die mittlere Unterwegszeit im Auto pro Tag für die Arbeit nur 22 Minuten und für den Einkauf nur 13 Minuten beträgt,[11] ist dies in der Schweiz nicht wirklich ein Problem. Nur 12% der Arbeitspendler mit dem Auto haben einen Arbeitsweg, der länger als ½ Stunde dauert. Demgegenüber sind 70% der Zugpendler länger als ½ Stunde unterwegs.[12]

Die Angst, dass das Laden der Batterien noch relativ lange dauert und die Akkus möglicherweise noch zu anfällig sind, ist weit verbreitet. Deshalb soll die Weiterentwicklung mobilitätstauglicher Batterien unbedingt aktiv beobachtet und gefördert werden. Übrigens – de facto befinden sich bereits 2010 in der Region Zürich mehr als ein Dutzend Stromtankstellen, über 600 Ladestationen in der Schweiz und fast 700 in Deutschland.[13]

Elektroautos sind immer noch überdurchschnittlich teuer – doch da die Schweiz ein hervorragendes Angebot im öffentlichen Nah- und Fernverkehr hat und in Grossstädten viele ganz auf einen eigenen motorisierten Untersatz verzichten – beispielsweise in Berlin besitzt fast jeder zweite Haushalt kein Auto – ist der Kauf eines eigenen Autos für viele gar keine Option mehr. Für Gelegenheitsfahrer wären Carsharing und Miete eine viel interessantere Möglichkeit.

Und bevor wir es vergessen: Damit Elektroautos wirklich von jedermann und jederfrau gefahren werden, sollten sie von jedem Pannendienst und von jeder Garage geflickt werden können.

Das richtige Fahrzeug für den richtigen Zweck

Im Sinne eines intelligenten Verkehrskonzeptes geht es also nicht darum, dass nun alle in fundamentalistischer Weis auf Elektroautos umsteigen, sondern dass Verkehrsmittel geschickt kombiniert und angemessen gebraucht werden. In den nächsten Jahrzehnten werden wir wohl eine weitgehende Differenzierung des Verkehrs erleben:

Elektro- und Hybridautos kommen primär für die Mehrheit der Agglomerations- und Stadtbewohner für Kurzstrecken in Frage. Besonders für Taxis und Firmenfahrzeuge innerhalb der Agglomeration wäre ein Elektro-Hybridantrieb prüfenswert. Als Vorteil im Stadtverkehr kommt zudem die enorme Antriebskraft beim Start dazu. Während klassisch angetriebene Autos erst durch Einfädeln der Gänge mühsam auf Touren gebracht werden müssen, beschleunigt ein Elektroauto wie ein Autoscooter oder die Straßenbahn.[14] Ein Elektroauto zu unterhalten ist zudem günstiger als ein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor[15]

Wie das Arbeitspendlerverhalten in der Schweiz bereits eindrücklich zeigt, ist für mittlere Strecken die Bahn das richtige Verkehrsmittel. Und für Langstrecken sind es Hochgeschwindigkeitszüge oder das Flugzeug.

Die Sache mit dem Image

In Kalifornien gehört der Toyota Prius mit Benzin-Elektro-Hybridantrieb bereits zum guten Ton – soweit sind wir hierzulande an der Züricher Goldküste oder an den Jetset-Schauplätzen noch nicht – dominieren hier doch noch grosse, geländegängige Fahrzeuge mit einem hohen CO2-Ausstoss.

Es wird spannend sein zu beobachten, welches Sozialimage die Werbung mit dem Elektroauto verbinden wird. Werden auch in der Schweiz Öko-Mobile zum Lifestyle zählen und werden Frauenzeitschriften positiv darüber berichten, dann wird das Thema wohl richtig ins Rollen kommen.

Werden Frauen nach ihrem beruflichen und finanziellen Aufstieg nun auch noch eine automobile Emanzipation einläuten? Die Trendforschung propagiert seit Jahren die zunehmende Feminisierung der Welt im 21. Jahrhundert – wann wird der Automobilmarkt als eine der letzen Männerbastionen fallen und wie werden Elektromobile aussehen, die von Frauen gefahren werden?


Die Komplexitätsfalle der postmodernen Mobilität

Die Quadratur des Kreises

Die Anforderungen an die Zukunft der Mobilität sind vielseitig und widersprüchlich. Obwohl der Megatrend „Virtualität“ uns lehrt, dass wir bald unser gesamtes Leben vom heimischen Bildschirm aus erledigen könnten, steigt das Verkehrsvolumen jährlich. Wir sind durchschnittlich im Tag über 90 Minuten unterwegs, dabei aber nur ¼ dieser Zeit unmittelbar für unsere Arbeit.[1] Obwohl wir politisch entschieden haben, die Herausforderungen von Klimawandel und Energieverknappung in den Griff zu bekommen, erwarten wir gleichzeitig, dass Verkehrsmittel einfach, billig und individuell verfügbar sind, denn die mittlere Tagesdistanz von etwa 40 Kilometer bewältigen wir zu 60% mit unserem eigenen Auto[2].

Wie hiess das doch damals in der Schule? „Die Quadratur des Kreises“.

Zudem haben wir als Schweizer einen sehr hohen Grad an Qualität und Perfektionismus bei einem gleichzeitig exzessiven Sicherheitsbewusstein. Tugenden wie Improvisieren, Ausprobieren und aus Fehlern lernen sind uns eigentlich fremd.

Unsere Welt ist komplex geworden

Unsere Welt ist komplex geworden: Insbesondere seit uns der deutsche Professor Frederic Vester[3] überzeugt hat, dass alles mit allem ganzheitlich vernetzt ist. So lehrte Vester zumindest an der Hochschule St. Gallen in seinen Ansätzen der Kybernetik und des vernetzten Denkens, die direkt ins St. Galler Management Modell[4] eingeflossen sind. Zudem haben wir im populärwissenschaftlichen Teil der Chaostheorie den Schmetterlingseffekt kennengelernt: „Does the flap of a butterfly’s wings in Brazil set off a tornado in Texas?“[5] Und wir haben glauben gelernt, dass dies als Paradigma für alle Bereiche unseres komplexen Lebens gültig sei. So sind wir heute im Allgemeinen verwirrt, wie wir uns nun verhalten sollen, um unsere langfristigen Ziele wirklich erreichen zu können, und wie wir uns bei einer Angebotsvielfalt und im Dilemma entscheiden sollen. Beispielsweise um die Ziele der Verkehrs- und Umweltpolitik zu erreichen. Ohne dass wir unser Verhalten in fundamentalistischer Weise ändern müssen. Und da wir als Schweizerinnen und Schweizer nun im Allgemeinen in der selbst gegrabenen Perfektionismusfalle sitzen, unternehmen wir am liebsten gar nichts – um ja nichts falsch zu machen.

Doch wie sagte bereits John F. Kennedy? „Einen großen Vorsprung im Leben hat, wer da schon handelt, wo die anderen noch reden.“ Auch auf die Gefahr hin, dass es nur die zweitbeste Lösung ist und dass später noch nachkorrigiert werden muss. Aber wir wären einen Schritt weitergefahren – ich meine: gegangen.

Ein vielfältiges Portfolio

Als Schweizerinnen und Schweizer verabscheuen wir totalitäre Ansätze und lieben gemischte Portfolios.

  • Wir geben den Themen „Verkehrspolitik“ und „Umweltpolitik“ bzw. „Klimapolitik“ und „Nachhaltigkeit“ in den Medien, in der Politik und in der Ausbildung einen hohen Stellenwert.
  • Wir fördern seit Jahrzehnten den öffentlichen Verkehr auf der Schiene, so dass dieser bei uns einzigartig preiswert, zuverlässig und zeitlich und räumlich verfügbar ist und zudem ein hohes Sozialimage aufweist.
  • Wir verteuern per Steuern den Treibstoff künstlich in einem Masse, wie dies für US-Amerikaner undenkbar wäre.
  • Wir „lenken“ das Verkehrsverhalten, indem wir den Parkraum beinahe prohibitiv bewirtschaften.

Doch noch immer haben wir unsere Ziele nicht erreicht.

Die Qual der Wahl

Eine Massnahme der Fahrzeughersteller liegt bei der Entwicklung von alternativen Antrieben, die effizienter mit den Ressourcen umgehen und die Umwelt weniger mit Lärm und Luftschadstoffen belasten: seien dies grosse Fortschritte in der Umweltverträglichkeit der Dieselmotoren, seien dies neue Antriebsarten mit einem hohen Ökoimage wie Elektro-, Hybrid- oder Wasserstoffantriebe. Mittlerweile ist fast die Hälfte aller US-Kunden an umweltfreundlicheren Fahrzeugen interessiert. Doch obwohl wir eigentlich in einer neoliberalen, wertepluralistischen und postmodernen Gesellschaft den Wettbewerb und die Angebotsvielfalt über alles lieben, sind wir nun überfordert, wie wir aus dieser Vielfalt an Ökoautoalternativen auswählen sollen – und genau diese Vielfalt wird uns wieder zur Komplexitäts- und Perfektionsimusfalle[6].

Denn wir wollen schliesslich keinen Fehler machen und das „richtige“ Verkehrsmittel wählen. Doch nur welches?

Die Zukunft der Mobilität

Fachleute und Entscheidungsträger täuschen sich in ihren Meinungen

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutete sich der Durchbruch des motorisierten Individualverkehrs an – und seit jener Zeit täuschen sich Fachleute und Entscheidungsträger in ihren Meinungen zur weiteren Entwicklung der Mobilität. Der deutsche Kaiser Wilhelm II glaubte am Ende des 19. Jahrhunderts noch an die Zukunft des Pferdes und erachtete das Automobil nur als vorübergehende Modeerscheinung. Gottlieb Daimler, der grosse deutsche Autopionier, war 1901 noch überzeugt, dass der weltweite Markt für Automobile eine Million nicht überschreiten werde – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren. Und Henry Ford wird nachgesagt, er sei überzeugt gewesen, dass sein Modell T nur in der Farbe schwarz verkäuflich sei. „Verkehrsprognosen sind rückblickend gesehen in aller Regel falsch gewesen. Immer nämlich ist die Zunahme der Mobilität unterschätzt worden.“, sagte sogar der scheidende Schweizer Verkehrsminister Moritz Leuenberger[1]:

Eine Balance zwischen Sesshaftigkeit und Neo-Nomadismus

Zwar zeigen uns das kulturgeschichtliche Phänomen der Sesshaftigkeit und das Institut von Ehe und Familie, dass der Mensch das Bedürfnis nach Stabillität hat. Der Lebensraum soll abschätzbar, der Besitz soll definierbar und verteidigbar und die Beziehungen sollen überschaubar und zuverlässig sein. Zugleich aber hat der Mensch auch das Bedürfnis nach Abwechslung und Bewegung. Dieses gewinnt im religiösen Pilgertum sogar eine spirituelle Bedeutung.

Das menschliche Leben spielt sich ab in der Balance zwischen Grenzen zum Schutz und zur Definition der Identität einerseits, aber andererseits auch in den Herausforderungen des Grenzen Überwindens und des Brückenbaus.

Die aktuellen Grenzen

Relevante Grenzen für unser Mobilitätsbedürfnis finden wir heute

  • in der billigen Verfügbarkeit von fossilen Brennstoffen als Voraussetzung, dass Verkehr so billig bleibt und somit für die Masse erschwinglich bleibt,
  • in der Verfügbarkeit von Verkehrsraum, der immer stärker in Konkurrenz zu Wohn- und Arbeitsraum steht, insbesondere weil Verkehr durch Lärm und Luftschadstoffe einen „Schattenraum“ beansprucht, der immer weniger akzeptiert wird,
  • in der Selbstregenerierung der Luft und des Klimas als Lebensgrundlage

Das Dilemma der Mobilität

Entscheidend bei dieser Betrachtung ist, dass sich Stärken und Anforderungen der Sesshaftigkeit einerseits und des Neo-Nomadismus andererseits in Konkurrenz befinden. Die Notwendigkeit der Mobilität ist nicht mehr ein normativer Erfolgsfaktor zum Überleben, die negativen Auswirkungen werden von den Betroffenen nicht mehr widerstandslos erduldet und auch die Verursacher sind nicht willens, die Vorteile um jeden Preis durchzusetzen. Zwar legen die Schweizer durchschnittlich pro Person pro Jahr über 17‘000 Kilometer zurück, davon über 10‘000 km mit dem Auto.[2] Die im Durchschnitt täglich zurückgelegte Distanz pro Person (ab 10 Jahren) liegt bei 38 km, über 26 km mit dem Auto.[3] Dabei wird aber nur etwa ein Viertel der Verkehrszeit für den eigentlichen Arbeitsweg aufgewendet. Etwa die Hälfte wird für den Freizeitverkehr gebraucht. [4] Über 200‘000 Pendler haben einen Arbeitsweg, der länger als eine halbe Stunde ist.[5] Zugleich strebt der Bundesrat an, den Ausstoss von Treibhausgasen bis 2020 um 20% und um 50% bis2050 zu senken.[6] Und die Opposition der Bevölkerung gegen jegliche Art von Lärmemissionen steigt – sein dies Militärflugzeuge, Kindergeschrei, Kirchenglocken, die Angst vor Muezzinrufen – oder eben Strassenlärm.[7] Strassenlärm ist in der Schweiz die bedeutendste Lärmquelle. Rund 1,2 Millionen Personen sind tagsüber schädlichem oder lästigem Strassenverkehrslärm ausgesetzt, nachts sind es immer noch rund 580 000 Personen.[8]

Who is the most responsive to change?

Seit Ende des 19. Jahrhunderts befinden sich Benzin und Elektrizität im Wettkampf als Antriebssystem für den motorisierten Verkehr.[9] Welches Antriebssystem und welches Verkehrskonzept werden zu Beginn des 21. Jahrhunderts die drei neuen Grenzen des Mobilitätssystems überwinden oder die beste Optimierung innerhalb dieser Grenzen bieten? Gemessen an der Anzahl Personenkilometer ist der motorisierte Individualverkehr auf der Strasse mit 75% der stärkste Verkehrsteilnehmer und jeder zweite Einwohner hat einen PW.[10]

Doch wie sagte schon Darwin? „It’s not the strongest of the species that survive, nor the most intelligent, but the most responsive to change.“[11]


[2] Peter Bieri, in: swissfuture Magazin für Zukunftsmonitoring (1/2008), Mobilität, S. 14

[6] Peter Bieri, in: swissfuture Magazin für Zukunftsmonitoring (1/2008), Mobilität, S. 15

[9]This Oberhänsli, in: swissfuture Magazin für Zukunftsmonitoring (1/2008), Mobilität, S. 42

Erleben wir eine Renaissance des Nomadismus?

Vom Jäger zum Bauern

Die Menschheitsgeschichte lehrt uns, dass wir ursprünglich Jäger und Sammler waren. Zwischen dem achten und fünften Jahrtausend fand in Süd- und Mitteleuropa der Übergang zum sesshaften Bauerntum statt. Wir begannen, den Acker zu bestellen und Vieh zu halten. Als früherer Seitenzweig zu dieser Entwicklung entstand der Nomadismus, indem Hirten, teilweise mit dem ganzen Hausrat, zyklisch den Futterplatz des Vieh und somit auch den eigenen Wohnplatz wechselten. Übrigens sind wichtige religiöse Vorstellungen in unserem Kulturkreis von den Übergängen zwischen Nomadismus und Sesshaftigkeit geprägt: die Wurzeln der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam gehen auf solche Persönlichkeiten und Erlebnisse zurück, viele unserer religiöse Denkmuster und Werte entstammen dem Lebensumfeld von wandernden Hirten und sesshaft gewordenen Bauern.

Das Territorium

Mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit wurde der Wert der „Heimat“ nicht mehr primär durch das soziale Beziehungsnetz, sondern durch die Zugehörigkeit zu einem Territorium innerhalb von räumlichen Grenzen definiert. Die Entstehung der verfassungsmässig begründeten Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert fixierte das Denken in den Kategorien „Territorium“ und „Grenzen“ geradezu normativ. Reichtum wurde definiert durch die Verfügungsgewalt über Ländereien und Gebäude sowie über Menschen, die diese bewirtschafteten. Diese Ordnung machte Sinn: der eigene Lebenshorizont wurde sichtbar, Stabilität schaffte Ruhe, durch Grenzen definierte Territorien konnten völkerrechtlich und militärisch verteidigt werden. Die Identität wurde nicht mehr primär als Zugehörigkeit zu einem „Volk“ durch Abstammung oder durch Religion, Hautfarbe oder Sprache sondern als „Bürger einer Nation“ durch ein Territorium definiert. Der Wert der Sesshaftigkeit und des Immobilienbesitzes sind fest in unserer Kultur verankert, so fühlen sich auch in aktuellen Studien Besitzer glücklicher als Mieter und 95% wohnen gerne in der Region, in der sie sich niedergelassen haben.[1]

Mobile Sondergruppen

Dabei wies auch die sesshafte Kultur während der ganzen Epoche Sondergruppierung auf, die hoch mobil waren:

  • Krieger und Söldner, die gerade in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft eine grosse Bedeutung hatten, bis der Schweizer Nationalheilige Niklaus von der Flüh mit seinem Ratschlag „Mischt Euch nicht in fremde Händel“ den Grundgedanke der schweizerischen Neutralität begründete,
  • reisende Händler, die sowohl für Brückenstädte wie Basel aber auch für den Alpen-, Pässe- und Gotthardmythos wirtschaftlich entscheidend waren,
  • religiös motivierte Pilger und Wanderprediger, die auf einem der Jakobswege nach Santiago di Compostella unterwegs waren und die Wichtigkeit des Kloster Einsiedelns als Wallfahrtsort begründeten
  • Bildungsreisende, die sich sowohl an den alten Pilgerrouten orientierten, aber auch auf den Spuren von Goethe und Schiller, den grossen Dichtern der Klassik, den Weg in die Schweiz und nach Italien suchten. Die Lektüre dieser Bücher, gepaart mit den Mythen von Natur und Ursprünglichkeit in der Romantik und der Idealisierung der Schweiz als Hort von Freiheit und Demokratie waren die Grundlagen für den Wert des Tourismuslandes Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert.

Ausnahmen werden zur Regel

Diese Typen, die in einer sesshaft gewordenen Kultur eigentlich Ausnahmeerscheinungen sind, sind in einer neuen Form seit einigen Jahren wieder allpräsent: Söldner und Handelsreisende sind verschmolzen zum Arbeitsplatzpendler und Geschäftsreisenden. Pilger und Bildungsreisende sind verschmolzen zum Touristen und Freizeitserlebnis-Suchenden, wobei meistens Abwechslung zur Arbeit, Erholung und Spass das treibende Motiv sind.

Die Bautechnik hilft uns, naturräumliche Grenzen und Hindernisse zu überwinden. Moderne Verkehrsmittel helfen uns, Distanzen zu überwinden. Territoriales Denken scheint in vielen Bereichen überholt, da alte Grenzen und Distanzen nicht mehr relevant sind. Verkehr ist auf diesem Wege sehr schnell und insbesondere sehr billig geworden.

Das „Gen des Unterwegs-Sein“, das identitätsstiftend für Jäger, Sammler und Nomade war, und primär wirtschaftlich und militärisch nötig war, und das „Gen der Sesshaftigkeit“, das nach Heimat und materiellem Immobilienbesitz drängt, werden immer häufiger von einer Person innerhalb eines Lebensabschnittes gleichzeitig gelebt. Aufgrund der Megatrends von Globalisierung, Mobilität, Flexibilität, Geschwindigkeit und Individualität entsteht ein neuer Nomaden-Typus.

Die schnelle und billige Überwindbarkeit von Grenzen und Distanzen ist einer der wichtigen Werte unserer Gesellschaft geworden. Der grösste Teil unserer Gesellschaft profitiert von den Vorteilen der Sesshaftigkeit – und ist gleichzeitig Tageszeit- oder Wochenend-Nomade – auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkauf, zur Erholung oder zu Freunden. Dabei hat sich die Geschwindigkeit verzwanzigfacht: von 5 km/h auf über 100 km/h.

Neue Grenzen

Doch seit kurzem tauchen neuartige Grenzen am Horizont auf:

  • die Grenze der billigen Verfügbarkeit von fossilen Brennstoffen als Voraussetzung, dass Verkehr so billig bleibt und somit für die Masse erschwinglich bleibt,
  • die Grenze des verfügbaren Verkehrsraumes, der immer stärker in Konkurrenz zu Wohn- und Arbeitsraum steht, insbesondere weil Verkehr durch Lärm und Luftschadstoffe einen „Schattenraum“ beansprucht, der immer weniger akzeptiert wird,
  • die Grenze der Selbstregenerierung der Luft und des Klimas als Lebensgrundlage.

Bundesfeier, Steffisburg, 1.August 2007: Eine Brücke in die Heimat der Zukunft

Sehr geehrter Herr Gemeindepräsident
Sehr geehrte Gemeinderätinnen und Gemeinderäte
Sehr geehrte Steffisburgerinnen und Steffisburger
Sehr geehrte Gäste von nah und fern

Einleitung

Wie Sie meinem Dialekt anhören, gehöre ich selber zu den Gästen, die von weit her angereist sind.

Auf meiner Reise hierher habe ich viele Brücke überquert. Und in der Image­broschüre von Steffisburg habe ich gelesen, dass Brücken etwas ganz wichtiges für Steffisburg sind. Der Gemeinderat schreibt: „Unser Dorf hat immer Brücken geschlagen und schlägt sie täglich neu. Zwischen Stadt und Land. Zwischen Mittelland und Oberland und dem Emmental. Und vor allem: Zwischen Menschen und zwischen Kulturen. Sie sind herzlich eingeladen. Schreiten Sie über unsere Brücken.“

Als Basler verstehe ich dieses Bild sehr gut, denn Basel hat 7 Brücken über den Rhein. In Steffisburg habe ich 10 Brücken und Stege über die Zulg gezählt.

Es freut mich, dass ich heute Abend hier im „Brückendorf Steffisburg“ bei Ihnen sein darf, nachdem ich im Frühling bereits ein Referat an der Klausur des Gemeinderates habe halten dürfen – damals hatte ich zwei Stunden– heute Abend ¼ Stunde. Es freut mich, dass ich im kommenden Herbst noch paar Mal hier in Steffis­burg sein werde, um gemeinsam mit dem Gemeinderat ein Familienleitbild zu erarbeiten.

Was ist der 1. August?

Im Herbst wird uns das Familienleitbild beschäftigen – und eine Familie ist ein kompliziertes Brückenbauwerk zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, Geschwistern, Grosseltern, Tanten und so weiter und so fort. Eine Familie ist unter anderem auch ein Ort, an dem wir Feste feiern. Und heute feiern wir hier zusammen mit unseren Familien den 1. August.

Als Familienvater weiss ich, dass Geburtstage feiern etwas Wichtiges ist – so orientieren sich meine Kinder im ganzen Jahr an ihren Geburtstagen. Und so darf ich heute gemeinsam mit Altbundesrat Ogi sagen: „Ich feiere am 1. August den Geburtstag meiner Heimat …  Wo ich meine Familie und meine Freunde habe … Die Schweiz ist ein Land, das auch für die kommenden Generationen Heimat sein wird.“

Was ist Heimat?

Doch was ist überhaupt diese „Heimat“, die wir heute zusammen feiern? Das Lexikon sagt uns, Heimat ist „der geographisch einheitlich erlebte Raum, mit dem sich der Mensch durch Geburt, Tradition und Lebensweise besonders verbunden fühlt …“

Was genau ist nun dieser geographisch einheitlich erlebte Raum? Wo ist Ihre Heimat? Wenn Sie den Turm der Dorf­kirche sehen? Wenn Sie das Stockhorn sehen? Oder schon früher? Wenn Sie in der Ferne die Berner Alpen sehen? Oder wenn Sie bei Basel die Landesgrenze überqueren? Welche Brücke müssen Sie überschreiten, damit Sie sich auf der anderen Seite in der Heimat befinden?

Geografie und Nationalstaatlichkeit sind wichtige Dimensionen von Heimat – und diese feiern wir heute am 1. August. Aber es ist eben nur ein Teil  der Heimat. Für uns Schweizer ist die Definition der Heimat keine einfache Sache: vier Sprachen, zahlreiche Berge und Flüsse mit unzähligen Brücken, unterschiedliches Klima, verschiedenste Wirtschaftsräume und kein König, der die Schweiz gegründet hat.

Die alte Schweiz ist durch den Willen der alten Eidgenossen gegründet worden. Die alten Eidgenossen haben vor über 700 Jahren zusammenstehen wollen, weil sie frei und unabhängig sein wollten, weil sie sich gegen fremde Vögte und gegen ungerechte Steuern verteidigen wollten. Die Schweiz ist eine Willensnation.

Und das ist bei einem Brückenbau nichts anderes – eine Brücke ist nicht einfach da – eine Brücke muss man wollen. Und gemeinsames Leben benötigt viele Brücken. Und diese Brücken muss man wollen. Von beiden Seiten her. Der Bau einer Brücke ist nie zufällig. Eine Brücke hat ein Ziel: eine Brücke will ein Hindernis überwinden: ein reissender Fluss oder eine tiefe Schlucht. Eine Brücke will verbinden. Eine Brücke will es ermöglichen, den Weg fortzusetzen, von beiden Seiten her. Und wenn eine Brücke nicht von beiden Seiten her gewollt und gebaut wird – und bei Bedarf dann auch geflickt wird – dann wird diese Brücke keinen Bestand haben.

Was wird Heimat sein?

An einem 1. August schauen wir gerne in nostalgisch verklärter Art in die gute alte Zeit zurück. Aber die Zeit steht nicht still, genau so wenig wie die Zulg unter den Steffisburger Brücken stillsteht. Es wird nie wieder so sein, wie uns die Mythen und Legenden über die gute alte Zeit erzählen. Aber, unter uns, diese gute alte Zeit hat es nie gegeben.

An einem 1. August haben wir auch die Möglichkeit, gemeinsam vorauszuschauen: Welche Heimat wollen wir in Zukunft haben?

Postmoderne und Wertediskussion

Ein wichtiges Thema der zukünftigen Veränderung ist die Diskussion über Werte.

Wir leben heute in der Zeit der Postmoderne und reden in der Wertediskussion viel über Toleranz. Doch müssen wir uns fragen, ob wir wirkliche Toleranz leben – ist es nicht eher Ignoranz, die uns dominiert? Toleranz bedeutet eigent­lich, dass ich meine eigenen Werte kenne und dass ich meine eigenen Werte tatsächlich auch lebe. Toleranz be­deutet, dass ich die Werte meines Nachbarn kenne und dass ich es zulasse, dass auch mein Nachbar seine Werte leben darf, solange wir uns als Menschen achten und in Friede und in Freiheit miteinander leben können.

Der unüberschaubare und unverbindliche Wertepluralismus der Postmoderne hat aber dazu geführt, dass viele von uns weder die eigenen Werte noch die der Nachbarn kennen – häufig verhalten wir uns wie Ignoranten. Und weil wir ver­gessen haben, welches unsere Werte und unsere Identität sind, haben wir allmählich Angst vor jedem, der in der Kin­dererziehung, in der Sexualmoral oder in der Religion an seinen Werten festhält, und wir beschimpfen ihn als Fun­damentalist. Aber zum Bau einer Brücke, zum Bau von Brückenköpfen, die bei Unwettern und Überschwemmungen standhalten sollen, brauchen wir tief verankerte Fundamen­te. Schliesslich wollen wir ja eine Brücke bauen, die hält, und kein Floss, das davonschwimmt. Wir werden also um die Frage nach den Fundamenten von unserer Gesellschaft und von unseren Werten nicht herumkommen. Und gleich­zeitig haben wir Angst vor allem was anders und fremd ist – vielleicht gerade deshalb, weil wir unsere eigenen Werte und unsere eigene Heimat nicht mehr kennen.

Wir leiden also eigentlich an einer zerbrochenen Brücke. Und offensichtlich bringen unsere schnittigen Surfbretter, die zwischen den allzu vielen Ufern hin und her surfen sollen, mögen sie noch so schnell und wendig sein, einfach nicht die Zuverlässigkeit und Stabilität, die wir für unser Leben halt einfach doch brauchen.

Globalisierung und Mobilität

Die Zukunft wird uns eine weiter stark zunehmende Globali­sierung und Mobilität bringen. Aber – Hand aufs Herz – wer von uns möchte wirklich in die angeblich gute alte Zeit zu­rück? Denn damals haben nur die wenigsten die Dorf­grenzen überschritten und kaum einer hat je das Stockhorn von der anderen Seite gesehen.

Aber vergessen wir dabei nicht – Europa ist schon seit zwei­tausend Jahren ein Land der Völkerwanderungen. Und Steffisburg liegt schon seit Jahrhunderten an Strassen, die vom Norden in den Süden, vom Westen in den Osten füh­ren. Die Brücken über die Zulg sind gebaut worden, weil Menschen die Zulg überschreiben wollten und weil Brücken­bauer dies möglich machen wollten.

In Zukunft werden wir noch viele Brückenbauer brauchen. China und Indien beanspruchen eindeutig, dass sie früher führende Weltmächte waren und dass sie wieder Welt­mächte werden wollen. Das Auftreten des Islams und anderer Religionen wird lauter und anspruchsvoller werden – und auch in der Schweiz werden wir uns wieder fragen müssen – wird Religion zum zukünftigen Segen oder zum Fluch für uns? Armuts-, Umwelt- und Wasserprobleme in Afrika und Asien werden wachsende Völkerwanderungen provozieren. Wie hat doch Altbundesrat Villiger gesagt: „Niemand verlässt die Heimat, wenn er zu Hause eine Perspektive hat.“

Eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft wird lauten, Brücken zu bauen zwischen Einheimischen und Fremden. Bundesrat Blocher sagte am 25. Nordostschweizer Jodlerfest zurecht „Je mehr die hohe Politik von Globalisierung schwärmt, je mehr das Heil in nicht fassbaren und nicht überschau­baren supranationalen Organisa­tionen gesucht wird, umso mehr sehnen sich die Menschen nach Halt, nach Tradition und Heimat – denn dort ist der Ort des Vertrauten und des Überschaubaren.“

Der Brückenbau in die Zukunft braucht einen soliden Brückenkopf aus unserer Seite. Eine Heimat, in der unsere Kinder in Friede und Freiheit aufwachsen sollen, braucht eine Brücke, die hält. Die schwierige Frage lautet: Wo wollen wir Brücken bauen, um zu verbinden? Und wo müssen wir Mauern, um uns zu schützen? Im Rahmen der Globalisierung müssen wir stärker darauf achten, dass wir auch die anderen dazu gewinnen, auch auf ihrer Seite an ihrem Brückenkopf zu bauen, damit tatsächlich eine tragende Brücke entsteht, die uns verbinden wird. Auch wenn wir von verschiedenen Ufern her kommen.

Ich bin überzeugt, dass wir dabei die Wertediskussion intensiv führen müssen. Wir müssen uns wieder bewusst werden, ob und welche Teile des europäischen, des schweizerischen, des christlichen Erbes uns so wertvoll sind, so dass wir sie als Werte bewahren und weiterführen wollen. Aber es kann dabei nicht darum gehen, aus Prinzip angebliche Werte aus der Vergangenheit zu verteidigen, dabei kämpfen wir bloss für alte Formen, ohne ihre Grund­lage und ihren Zweck wirklich zu kennen. Werte sind kein Selbstzweck. Es geht darum, Werte zu definieren, die ein menschliches Leben in der Zukunft ermöglichen. Werte sollen immer ein Brückenschlag sein, Werte sollen Leben ermöglichen und keine Mauer sein, die Leben tötet. Und gerade als Schweizerinnen und Schweizer fragen wir uns, welche Werte werden uns zukünftige Freiheit ermöglichen? Welche Werte waren die Grundlage unserer Heimat in der Vergangenheit? Welche Werte brauchen wir als Grundlage, damit wir auch in Zukunft eine Heimat haben werden?

Sind unsere Werte eine tragfähige Grundlage, auf der man eine Heimat bauen kann?

Übrigens – ich denke nicht, dass wir heute in einer werte-lo­sen Zeit leben: Unsere Gesellschaft ist sich sehr einig über gemeinsame Werte: wir alle wollen jung sein, wir wollen schön sein, wir wollen reich sein, wir wollen gesund sein, wir wollen erfolgreich sein. Dies sind eigentlich alles Werte, die meisten davon können wir sogar auf Franken und Rappen genau ausrechnen. Und jeder von uns ist über­zeugt, dass er das will und dass er einen Anspruch darauf hat.

Die kritischen Gegenfragen heissen dabei: Wie definieren wir unseren eigenen Selbstwert, wenn wir nicht mehr jung, nicht mehr schön und nicht mehr gesund sind und wenn wir es nicht geschafft haben, reich zu werden? Sind das die Werte, die uns Freiheit ermöglichen? Können wir auf dieser Grundlage unsere Zukunft bauen?

Max Frisch hat geschrieben: „Heimat sind die Menschen, die wir verstehen und die uns verstehen.“ Damit wir uns verstehen, müssen wir die gleiche Sprache sprechen und die gleichen Symbole verwenden. Damit wir uns verstehen, müssen wir die Hoffnungen und die Ängste des anderen kennen und akzeptieren. Damit wir uns verstehen, müssen wir uns über gewisse Werte einig sein.

Demografie

Werte sind auch eine Frage von Erziehung. Und Erziehung ist eine Frage des Zusammenlebens der Generationen. Erziehung ist das Weitergeben von Erfahrungen und Lebensweisheiten, eben von Werten, von der alten an die junge Generation. Hier kommt Tradition ins Spiel – das Weitergeben von Werten, die die Alten als wichtig und hilfreich erkannt haben.

Gegenwärtig kommen wir aber in eine sehr herausfordernde Situation. Denn die demografische Entwicklung in der Schweiz scheint unaufhaltsam – in 10 Jahren werden über 50% von unserer Bevölkerung über 50 Jahre alt sein.

Wir werden Brücken zwischen immer weniger Jungen und immer mehr Alten brauchen. Unsere heutigen Senioren können sich ein finanziell abgesichertes Golden Age leisten und gelten die wirtschaftskräftigste Bevöl­kerungsschicht. Unsere Senioren sind bereit, sehr viel zu bezahlen, um mobil und schön und gesund zu bleiben – unsere Senioren sind bereit, viel Geld auszugeben, um scheinbar jung zu bleiben. Auf der anderen Seite sind junge Familien bzw. Alleinerziehende mit ihren Kindern plötzlich „working poor“. 44 Prozent der Sozialhilfebezüger im Kanton Bern sind jünger als 25 Jahre. Im Vergleich zu diesen Grup­pen sind die meisten der heutigen Rentner kaum auf Sozial­hilfe angewiesen. Als Junge und als Alte, als Kinder und als Eltern und als Grosseltern sind wir herausgefordert, jeder von seiner Seite her, an den dringend nötigen Brücken zu bauen. Interessanterweise redet bereits der letzte Vers des Alten Testamentes aus der Bibel über diesen Frieden zwischen den Generationen. Es wird nur eine Zukunft für die Menschheit gibt, wenn Väter und Söhne und Mütter und Töchter versöhnt miteinander leben können.

Individualisierung und Familie

Dabei erleben wir, dass das Modell der bürgerlichen Klein­familie nicht überlebensfähig scheint. Dieser Mythos der hei­len Kleinfamilie stammt übrigens gar nicht aus der guten alten Zeit. Die Sozialgeschichte der modernen Familie zeigt uns, dass dieses Modell in der frühindustriellen Gesellschaft in den Städten des 18. und 19. Jahrhunderts entstand ist. Heute scheint es, dass wir am Ende dieser Epoche stehen. Konstant erhöht sich die Scheidungsrate: 1967 betrug sie 1/8, 1975 knapp ¼ und 2005 über ½. In ½ der Scheidungen sind un­mündige Kinder betroffen. Über 1/3 der Haushalte im Kt BE sind Einzelhaushalte, in der Stadt BE über die Hälfte.

Die frühindustrielle Wirtschaftsform hat damals die Väter aus den Familien herausgerissen und sie zu Arbeitnehmern, zu Lohnempfängern und zu so genannten Ernährern degradiert. Das heute angestrebte Wirtschaftswachstum und die Angst um die finanzielle Altervorsorge reissen nun auch noch die Mütter aus den Familien heraus und betonen dabei primär die wirtschaftlichen Funktionen der Frauen.

Wir müssen dringend Brücken zwischen Männern und Frauen bauen, die in Politik und Wirtschaft immer stärker zur gegen­seitigen Konkurrenz werden.

Wir brauchen Brücken zwischen den Eltern, Vätern und Müt­ter, denn auf diesen Brücken wachsen unsere Kinder auf. Uns als vierfacher Vater und als Präsident des Eltern­rates des grössten Schulhauses in Basel kann ich ihnen versichern – das ist tägliche harte Arbeit. Wir brauchen Brücken zwischen den so genannt intakten konservativen Familien und den Patchwork Familien, den Allein­erziehenden und den Allein­stehenden. Dies wird uns im Familienleitbild im Herbst beschäftigen.

Ausblick

Die alten Eidgenossen haben primär Freiheit gesucht, Freiheit von habsburgischer Fremdbestimmung und von habsburgi­schen Steuern. Die Grundlage dieser Freiheit war ein Bund. Und die Erwartungen an diesen Bund sind so gross gewesen, über­menschlich gross, dass die Eidgenossen es nötig gefun­den haben, Gott in den Bund und in die Verfassung einzube­ziehen, Gott, den wir in unserer Fahne bezeugen und in unse­rer Nationalhymne besingen. Freiheit im schweizerischen Sin­ne will frei sein von einem fremden Joch, Freiheit im schwei­zerischen Sinne fragt gleichzeitig nach einem Bund als Grundlage.

Um die Freiheit der Zukunft zu ermöglichen, brauchen wir Bündnisse zwischen Alt und Jung, Mann und Frau, Eltern und Kindern, Schweizern und Fremden. Wir sind gefragt, neue Bündnisse zu schliessen. Ein Bündnis ist eine Brücke. Eine Brücke ist nicht einfach da, sie muss gewollt sein. Wir brau­chen Brücken und Brückenbauer. Eine Brücke hat keinen Selbstzweck.

Denken Sie daran: Eine Brücke verbindet zwei verschiedene Seiten miteinander, damit in Zukunft ein gemeinsames Leben auf beiden Seiten möglich sein wird.